Die nicht aufgekehrten Schreckschusspatronenhülsen aus der Silvesternacht haben sich in die Pflasterfugen Ecke Okerstraße/Hermannstraße eingetreten. Zu Beginn haben sie noch jeden Sonnenstrahl reflektiert und mit ihrem silbernen Aufgleißen verlorenes Münzgeld angetäuscht. Inzwischen fügen sie sich stumpf und unauffällig ins Pflaster.
Hunger
Vor zwei Tagen sind die Temperaturen gefallen. Nachts friert es jetzt und auch tagsüber wird es kaum wärmer als drei Grad. Als ich die selbstgemachten Meisenknödel aufhängen will, die ich vor drei Tagen zum Aushärten in einem Plastikbeutel unter meinem Fenster im Hinterhof deponiert habe, ist das dünne Plastik zerfetzt und die Knödel sind zerkratzt und angenagt. Im vergangenen Jahr habe ich etwa um diese Zeit regelmäßig eine Haselmaus im Hof beobachtet. Gerne möchte ich glauben, dass sie an den Knödeln war, aber die Spuren deuten auf ein größeres Tier. Was das heißt, ist klar und sofort befällt mich schlechtes Gewissen, denn natürlich war es fahrlässig, die Klumpen aus Fett und Getreide nahezu ungeschützt im Hof auszulegen. Schuldbewusst hänge ich die Knödel für das Tier, wie ich hoffe, unerreichbar am Zaun und im Holunder auf. Beim Entsorgen der zerfetzten Tüte, entdecke ich hinter den gelben Tonnen einen frischen Sandhaufen und ein Loch von etwa sieben Zentimeter Durchmesser. Wie damit umgehen? Hausverwaltung. Schädlingsbekämpfer. Kein Vertun. Wäre da nicht die Erinnerung an eine sterbende Ratte zu einer anderen Zeit und in einem anderen Berliner Hinterhof. Seitdem weiß ich, dass die Mär vom schmerzlos tötenden Rattengift Augenwischerei ist. Das schlechte Gewissen potenziert sich.
Schlehen
Um die Mittagszeit gehe ich zu Fuß in Richtung Gewerbegebiet Tempelhof. An der Ecke Gottlieb-Dunkel-Straße/Nackenheimer Straße leuchtet es metallisch blau aus dem Gestrüpp eines Vorgartens. Bei näherem Hinsehen sind es Schlehen, die dicht an dicht zwischen den dornigen Zweigen hängen. In der Mittagssonne schimmert der stahlblaue Reif auf den Früchten quecksilbrig, fast neonfarben.
Jungen die spielen
Kurz nach neunzehn Uhr. Ich fotografiere die Dschungelbilder im U-Bahnhof Hermannstraße. Vier Jungen, zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt, in dünnen Camouflage-Anzügen und Nikes, haben sich vor der Kälte und Dunkelheit draußen nach unten in den grell beleuchteten U-Bahnhof zurückgezogen und üben dort jetzt Gangsterposen. Zwei von ihnen haben Spielzeugpistolen dabei, für die sie mir eigentlich schon zu alt scheinen. Während ich fotografiere, beschiessen mich die Jungen mit weißen Plastikkügelchen. Die Geschosse prallen wie Hagel von meinem Daunenmantel ab und rollen über den Bahnsteig auf die Gleise. Der Beschuss ist eindeutig als Provokation gemeint. Ich gehe nicht darauf ein. Nach ein paar unentschiedenen Augenblicken wenden sich die Jungen wieder einander zu. „Polizei, Papiere!“ brüllt der Magerste von ihnen und baut sich mit Pistole im Anschlag vor den anderen auf. Später sitzen sie nebeneinander auf einer Bank, breitbeinig lachend, die Arme umeinander gelegt und machen Selfies von sich mit gezückten Knarren.