Burnout BRD

Die Todesfälle, die in Crash verhandelt werden, ereignen sich eher am Rande. Sie sind Kollateralschäden der allgegenwärtigen unterschwelligen gesellschaftlichen Gewalt, die im eigentlichen Zentrum der Erzählung steht. Aber woher rührt diese Gewalt? Wie äußert sie sich? Und welche Auswirkungen hat sie auf den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens?

Deutschland ist ein reiches Land: Mit einem pro Kopf erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukt von 40.485 € lagen die Deutschen 2018 im weltweiten Vergleich auf Platz 12. Im Mittel stehen allen Deutschen nach Abzug von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und anderen Abgaben monatlich knapp 2.150 € netto zur Verfügung. Hinzu kommen die Privatvermögen. 2018 verfügte jeder erwachsene Deutsche im Schnitt über ein Privatvermögen von knapp 184.000 €. Diese Zahlen könnten glauben machen, die Wohlstandsexplosion, die die alte Bundesrepublik zwischen den 1950er und 1980er Jahren erlebt hat, setze sich unvermindert fort, zumal sich bei allen genannten Kennzahlen in den letzten Jahrzehnten kontinuierliche, teilweise sogar erhebliche Steigerungen beobachten lassen.

Aber Durchschnittswerte sagen nur wenig über die Verteilung im Gesamtspektrum aus. Nimmt man diese in den Blick ergibt sich ein gänzlich anderes Bild: Zwar nennen 37 Prozent der erwachsenen Deutschen ein Vermögen von mehr als 88.000 € ihr Eigen und treiben damit die Durchschnittswerte in die Höhe, die Hälfte der erwachsenen Bundesbürger hat jedoch weniger als 31.000 € auf der hohen Kante, vierzig Prozent sogar weniger als 9.000 €. Ähnlich sieht es bei den Einkommen aus: Zwar verdienten 2018 knapp einundzwanzig Prozent der Beschäftigten in Deutschland brutto mehr als 31,76 € pro Stunde, die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer, darunter überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund, bezog 2018 jedoch nur einen Bruttostundenlohn von weniger als 16,58 €, ein Fünftel sogar weniger als 11,40 €. Frauen verdienten dabei über alle Gehaltsstufen hinweg im Schnitt zwanzig Prozent weniger als Männer.

Knapp sechzehn Prozent der Deutschen, also annähernd 12,5 Millionen Menschen, galten 2018 als armutsgefährdet und konnten damit netto über weniger als 1.135 € monatlich verfügen, wobei knapp die Hälfte dieses Betrags allein für Wohnen veranschlagt werden musste. Aber auch für viele Normalverdiener stellen Wohnkosten mittlerweile die größte finanzielle Belastung dar. Angesichts der Mietenexplosion in den städtischen Ballungsräumen werden inzwischen auch Familien mit mittleren Einkommen aus den Innenstädten an den Stadtrand und ins Umland verdrängt. Die längeren Arbeitswege werden dabei durch die seit Jahrzehnten auf Verschleiß gefahrene Verkehrsinfrastruktur zusätzlich erschwert.

Man kann diese Zahlenspiele endlos weitertreiben. Ihr zentrales Ergebnis ist jedoch seit langem bekannt: Der Wohlstand im reichen Deutschland ist zunehmend ungleich verteilt.

Gleichzeitig ist die soziale Mobilität, die die Boomjahre der alten BRD kennzeichnete, nahezu völlig ausgebremst.

Für immer mehr Bundesbürger stimmt damit das in ihren Köpfen verankerte und teilweise in den Medien fortgeschriebene Bild des deutschen Wohlstandsstaats, in dem jeder, der sich nur anstrengt, den Aufstieg schaffen kann, nicht mehr mit der eigenen Lebensrealität in einem vielerorts sichtbar heruntergewirtschafteten Land überein. Die Abweichung zwischen Soll- und Ist erzeugt Stress und Gewalt. Diese Gewalt durchzieht alle Lebensbereiche, sie ist unterschwellig und strukturell, aber deshalb nicht weniger konkret. Sie zeigt sich am Arbeitsplatz, sie brodelt in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sie bestimmt das Verhältnis zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sie offenbart sich im Umgang mit denjenigen, die im Kampf aller gegen alle bereits gescheitert sind: den Wohnungslosen, den Süchtigen, den psychisch Kranken.

Diese zunehmende soziale Härte und die daraus resultierende Vereinzelung dürfte eine der Ursachen für die fast biedermeierliche Rückbesinnung auf die Familie sein, die nicht nur das Milieu der urbanen Besserverdiener im Prenzlauer Berg kennzeichnet, sondern ebenso im kleinbürgerlich geprägten Speckgürtel anzufinden ist.

Die gesellschaftlichen und strukturellen Konflikte, die das Leben des Einzelnen beherrschen, lassen sich jedoch in der Familie nicht dauerhaft lösen. Im Gegenteil – oft genug replizieren sich in der Familie einfach nur die toxischen Strukturen der Gesamtgesellschaft.

Konsum hilft das familiäre Elend und die individuelle Einsamkeit kurzfristig zu überdecken. Shoppen gilt als Freizeitbeschäftigung, Kaufentscheidungen werden zur identitätsstiftenden Handlung stilisiert.

Kleidungsstil als politisches Statement vermarktet.

Die großen innerstädtische Einkaufszentren mit ihren Modeketten-Outlets, den Foodcourts, Sitzecken und Spielplätzen simulieren ein in sich geschlossenes Schlaraffenland, in dem sich das gemeine Volk hemmungslos glücklich kaufen kann.

Restaurantbereich in einem Einkaufszentrum am Berliner Alexanderplatz – mit Plastikpflanzen im Vordergrund

Als exklusives Gegenmodell bringen sorgfältig kuratierte Concept-Stores mit minimalistischer Galerieanmutung das Echte, Handgemachte und Widerständige in Position, bevor auch diese vermeintliche Authentizität mit rasender Geschwindigkeit wieder zur Massenware heruntergebrochen wird.

Angesichts dieser universellen Kommerzialisierung und konfrontiert mit der eigenen Einsamkeit, der familiären Verantwortung und den beruflichen Zwängen rutschen immer mehr Menschen in eine tiefe psychische Erschöpfung. Depressionen und Burnout-Diagnosen haben in den vergangenen Jahrzehnten sprunghaft zugenommen. Gleichzeitig besteht ein eklatanter Mangel an Psychotherapieplätzen. Ungeachtet der Einführung von Überbrückungsangeboten warten psychisch Kranke weiterhin mehrere Monate auf einen Therapieplatz.

In diese Lücke stoßen unzählige mehr oder weniger seriöse Anbieter alternativer Heil- und Beratungsmethoden.

Die allerorts aus dem Boden schießenden Yogastudios versprechen nicht nur mehr körperliche Beweglichkeit, sondern vor allem seelische Entlastung. Heilpraktiker für Psychotherapie, selbsternannte Life Coaches und spirituelle Lehrer wetteifern darin, ihre Klienten in ihrem Bedürfnis nach Leidensbefreiung, Wachstum und Entfaltung zu unterstützen.

Die zumeist nicht unerheblichen Kosten für diese Angebote werden teilweise auf intransparente Weise erhoben – etwa, wenn Anbieter „Wertschätzungsbeiträge“ für Veranstaltungen vor Ort in bar und ohne Quittung eintreiben.

Ob diese Angebote denjenigen, die sie wahrnehmen, den erwünschten inneren Frieden bringen, oder ob sie die Gefahr bergen, psychisch bereits angeschlagene Menschen endgültig zu destabilisieren, sei dahingestellt. Klar scheint jedoch, dass auch die beste innere Selbstregulierung qua Yoga und fernöstlichen Meditationstechniken nichts an den strukturellen Ursachen der individuellen Verzweiflung ändert. Für solche strukturellen Veränderungen wären vielmehr grundlegende gesellschaftspolitische Reformen erforderlich. Aber wer es kaum noch schafft, Arbeit, Familie, Konsum und Selbstfürsorge/optimierung unter einen Hut zu bekommen, dem fehlen die Kapazitäten, sich mit komplizierten politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen oder aktiv politisch tätig zu werden. Die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation hingegen bleibt. Sie ist es – und auch das ist in den vergangenen Jahren oft genug beschrieben worden – die den Aufstieg populistischer Bewegungen wie der AfD oder Querdenken beflügelt.

-> Designerpopulismus

Wer wähnt, hier handele es sich nur um braun angeschmuddelte Sammelbecken für randständige Abgehängte, verkennt, wie sehr das allgemeine Murren gegen „die Politik“ und/oder „die in Berlin“, mittlerweile den Ton bis weit hinein in grün-schwarz wählende, urban-bürgerliche Kreise bestimmt. Auslassungen, die mit „Ich würde ja nie die AfD wählen, aber…“, sind längst im Mainstream angekommen und der Verdacht liegt nahe, dass die behauptete Abgrenzung vom (Rechts-)Populismus weniger ein echtes Bekenntnis zu demokratischen Werten, als vielmehr eine bloße Frage von Gewohnheit und Stil ist.

-> Protestkunst – PR – Propaganda